Solo für Licht 2011

Solo für Licht 2011 — Close your Eyes

April 2011
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filmquiz

Zum Thema

Die erste Minute vom Rest des Films

Der Kinosaal erlischt, das domestizierte Sehen erblindet – die Leinwand ist schwarz.
Film unterscheidet sich von Kino. Der Prozeß des Entstehens filmischer Erzählung ist ein Prozeß der Bündelung von Licht. In seiner größtmöglichen Auflösung ist es weiß. In seiner größtmöglichen Verdichtung: schwarz. Das Filmbild in seinen extremen  Erscheinungsformen enthält den Keim der zu erzählenden Geschichte. Sein Zentrum ist Idee, ist Konzept. Erst in der Zukunft dieses, auf (zumeist, aber nicht in jedem Fall, belichtetes) Filmmaterial gebannten, Konzeptes entfaltet sich durch die Kraft der Reflexion das eingefrorene Bild zum Leben. Das Filmbild erfährt durch die Betrachtung eine Entfesselung, kann sich über den Rahmen der Leinwand hinaus erweitern. Dabei ist es nicht mehr nur Repräsentant einer abgebildeten Szenerie, sondern weist über sich selbst hinaus, erhält einen Eigenwert. Demgegenüber bewegt sich das Kinobild lediglich in den Grenzen seines messianischen Wahrheitsversprechens.
Die Leinwand bleibt schwarz. In ihrer Dunkelheit ist das Geschehen entschleunigt und sie verweist nicht mehr nur auf etwas Vorheriges oder Anschließendes, wohl aber auf den Betrachter – wie ein Spiegel. Wir müssen also beginnen, die zunächst undurchdringlich scheinende Dichte entlang ihres Ereignishorizontes (1) aufzulösen. Die dunkle Leinwand erscheint nur dem „leeren“ Betrachter leer insofern er sich auf sein visuelles Urteil verläßt.
Die Projektion beleuchtet eine Reise allein in unserem Kopf.

Kopfreisen

Unternommen werden sie in durchaus illustrem Kreis. Die Historie der – ob vom heimischen Fauteuil oder vom Kinosessel aus – unternommenen Abenteuer geizt nicht mit Prominenz: Jules Verne, Hermann Melville, Karl May oder Joseph Conrad. Das Schreiben von Geschichten ist verwoben mit dem Kino, mit Film. Es erschafft Welten für die inneren Augen; Augen, die sich über die Zentralperspektive als „Erfindung einer beherrschten Welt“ (Merleau-Ponty) ins Unbeherrschte erheben.
Ein für das Schreiben lange signifikantes Werkzeug ist die Schreibmaschine. Die erste tatsächlich so Benennbare stammt aus dem Jahr 1808 und wurde (allerdings nur scheinbar folgerichtig) von Pellegrino Turri für die erblindete Gräfin Anna Carolina Fantoni gebaut. Das Farbband für eine solche Gedankenmaschine kam erst 1855 zur Anwendung. Ein solches – z.B. "Gr. 177 C, Carbon“, geeignet unter anderem für die Marke „Hermes“ – kann in seiner Schwärze als größtmögliche Verdichtung aller Buchstaben verstanden werden. Unbenutzt scheint es noch völlig leer. Unbeschrieben, ein weißes Blatt. Mit dieser weißen Schwärze stellt das Farbband eine Art negative Diaspora der in seiner Zukunft in es hineinzuschreibenden Geschichte dar. An diesem Punkt teilt es sein Schicksal mit dem des Films (2) , auf jeden Fall mit dem der Leinwand.

Der "Span des Gegenwärtigen" (3)

Im Kopf, während der Betrachtung, verändert das Bild sein Wesen. Vom Negligé, verführerisch von Licht durchstrahlt, mutiert es durch Ausverleibung des davor laufenden filmischen Kaders, mutiert es durch das Sehen in ein Kopfbild an der Grenze zum Unbewußten. Es entsteht eine kleine Gegenwart, ein Augenblick der Wahrheit, der wie ein Span von unserem Wesen abgehoben wird. Hier können wir keine vordefinierten Räume mehr risikolos wahrnehmen. In diesem Moment ist Film gefährlich: close your eyes!
Der Kinosaal erlischt – die Leinwand ist schwarz.
Die schwarze Leinwand stellt den kleinstmöglichen Wert der Entropie – die von ihr ausgehenden Informationen scheinen gleich Null – und zugleich den höchsten der Selbstreflexivität des Publikums dar. An diesem Punkt gleicht das Publikum einem blinden Menschen. Diese Blindheit im Sinne des auf das Bild bezogenen cinema (4) ist in der diesjährigen Ausgabe von SOLO FÜR LICHT die immer wiederkehrende Thematik.

Close Your Eyes

Die Aufforderung close your eyes möchte in einem übertragenen Sinne verstanden werden. Ausgangspunkt ist Walter Ruttmanns „Film“ WEEKEND. Er steht am Beginn eines völlig neuen Genres: des poetischen Film-Essays. Ruttmann begriff „die eigentliche Arbeit eines Filmemachers als das Schneiden“ und schuf hiermit völlig neue Zusammenhänge. Die „filmische Assoziationskette erweiterte den Kern des einzelnen Bildes und flocht es ein in die Dynamik der Gesamtkomposition und konnte somit die Gestalt (5) einer Zeit, einer Idee, einer Gesellschaft repräsentieren. […] 1930 beauftragte der Berliner Rundfunk Ruttmann mit einer Ton-Dokumentation. In fünfzehn Minuten beschwor Ruttmann die ‚Melodie’ des einfachen Berliner Lebens vom freitäglichen Feierabend bis zum Montag, wenn die Wecker die noch gähnenden Sonntagsausflügler zur täglichen Schinderei riefen, herauf. Allerdings zeichnete er dieses essai sonore nicht auf Platte sondern auf Tonfilm auf. Dies ermöglichte ihm technisch die notwendige Freiheit in seiner Arbeit, denn er benötigte mikroskopisch feine Minuten-‚cuts’. Das Magnetband war noch nicht verfügbar; nur der Ton-Film ermöglichte ihm diese Flexibilität. [...]
Auf BERLIN – SINFONIE EINER GROSSSTADT, einen Stummfilm, und MELODIE DER WELT, seinen ersten Tonfilm, folgend, läßt sich WEEKEND als logische Fortsetzung des Ersten und Epilog des Zweiten verstehen. [...]“ (6)
WEEKEND kann als materieloser Film (7) bezeichnet werden. Wenn wir nun von dort ausgehend in unserer Überlegung einen assoziierenden Kreis ziehen, gelangen wir am „Ende“ der Kreislinie zu Derek Jarmans BLUE, einem Werk von fast greifbarer (farblicher) Materialität.
BLUE ist der zwölfte und letzte Film des britischen Filmregisseurs und Malers, bevor dieser an AIDS starb. Zur Veröffentlichung des Films im Jahr 1993 hatte ihn die Krankheit bereits beinahe erblinden lassen. Jarman konfrontiert nun den Betrachter mit einer monochromen Bildprojektion der Farbe Blau, die sein Sehfeld im Zuge seiner Krankheit eigenen Angaben zufolge vereinnahmt hatte. Ein Blau, das Assoziationen „an Himmel und Ozean, Blindheit, Paradies und Ewigkeit (8) “ hervorruft. Er metaphorisiert auf diese Weise seine Blindheit, die es ihm nicht mehr ermöglicht hatte, einen konventionellen Film zu drehen.
Ein bewegtes Bild gibt es in BLUE nur im technischen und – dies ist äußerst wichtig – im emotionalen Sinne. Die auditive Dramaturgie der persönlichen Entblößung Jarmans erzeugt beim Betrachter direkte Betroffenheit und läßt den Einen am „Strom des Bewußtseins“ (9)des Anderen teilhaben.
Technisch ließen sich die Bilder einer Filmprojektion als Schatten der chemischen Reaktion auf der Emulsion des Filmstreifens denken. Die Pseudorealität dieser Schatten vermag das Publikum gefangenen zu nehmen. Wenn nun aber Schatten und damit deren Bildursprung tatsächlich für sich selbst stehen können, ist das Ergebnis phänomenal – und in jedem Fall Text: SO IS THIS. Michael Snows einfaches und doch geistreiches Konzept, einen Film als Text zu erzählen, der den Betrachter direkt anspricht, wird zum überraschenden und vielschichtigen Erlebnis für das Publikum. Denn Wort für Wort ist dieser Film auch tatsächlich ein solcher. Und sich selbst Thema: "Warning: This film may be especially unsatisfying for those who dislike having others read over their shoulders."
Es ließe sich behaupten, daß das Gegenteil von Text Bild wäre. In unserem Programm käme die Aufgabe dies zu repräsentieren Pier Paolo Pasolinis Film SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA zu, der sinnigerweise auf einem Buch basiert, dem fast gleichnamigen „Les 120 Journées de Sodome ou L'Ecole du Libertinage“ von Donatien Alphonse François de Sade. Verlockend wäre es, die These der Parallele zwischen dem zentralen Thema des Romans (der notwendigen und erzwungenen Unterordnung um Befriedigung zu verspüren) und der Standardsituation des Publikums im Kino anzuführen. Doch nicht aus diesem Grund ist Pasolinis letztes und von Skandalen begleitetes Werk an dieser Stelle interessant.
Wohl ist es auf einer gesellschaftskritischen Folie zu betrachten, denn das im Titel genannte Salò bezieht sich durchaus auf die gleichnamige faschistische Republik von 1943–45. Dem Gedanken, es daraufhin aber in seiner Reflexion auf Faschismus zu begrenzen, sollte mit Skepsis begegnet werden. Überhaupt sollte diesem Film mit äußerster Skepsis (10) begegnet werden. Entschlüsseln – soweit dies in Gänze überhaupt möglich wäre – läßt sich SALÒ nämlich nur, wenn man nicht an den Bildern hängt, sondern diese ikonografisch als Zeichen betrachtet.
Die Wichtigkeit des Bildhaften wird durch die nahezu fehlende, beinah als vernachlässigt zu empfindende, filmische Bearbeitung noch betont. Zudem wird hier wie auch in SO IS THIS das Publikum direkt angesprochen und mehr noch, sein Fühlen und Verhalten direkt in die Konzeption einbezogen: „In jeder Einstellung stellte ich mir selbst das Problem, im Betrachter Gefühle ungeduldiger Ablehnung zu erzeugen und ihn sogleich wieder von diesen Gefühlen zu befreien.“, schrieb Pasolini (11).

Bilderdenken

"Bilder und Worte spielen mit dem Zuschauer Hase und Igel – und während man atemlos zuschaut, tröstet man sich über die eigene Wehrlosigkeit hinweg mit einem Wort von Adorno: 'Der Wert eines Gedankens misst sich an seiner Distanz zu der Kontinuität des Bekannten.' Nach zehn Minuten hat Chris Marker, dieser originelle Außenseiter, gewonnen: Er hat aus der Banalität der Welt die ersten strahlenden Funken einer Welterklärung geschlagen.", schrieb die Süddeutsche Zeitung; die Rede ist von Markers Film SANS SOLEIL. Um die wiederkehrende rhetorische Figur „er schrieb mir“ – gesprochen von einer Off-Stimme – gruppieren sich Bilder, Briefe und Erzählung in immerwährendem Verschieben zueinander. Dem Kaleidoskop der Bezugspunkte liegt das sich-selbst-in-Beziehung-setzen des nie zu sehenden auteurs zu den Bildern seiner ihm fremden (japanischen) Umgebung zu Grunde. "Endlich eine filmische Sprache, die ihre Themen nicht verwaltet, sondern zum Schweben bringt. Die Sprache ist hier nicht Kommentar wie im Dokumentarfilm oder Fernsehfilm. Die Bilder sind keine Beweisstücke für 'Aussagen' oder 'Handlung', [...]. Bei diesem Verfahren entsteht ein ganz unerwarteter Eindruck: Der Film ist etwas Drittes, ist nicht die Summe von Bild und Sprache, sondern er entsteht zwischen diesen von den Sinnen wahrnehmbaren Ereignissen." (12)
Bilder denken, Gedanken sehen, dieser operative Modus läßt uns eine Linie zeichnen, die SANS SOLEIL mit WEEKEND auf der einen und BRANCA DE NEVE auf der anderen Seite verbinden kann. Denn während Marker uns seine Bilder anbietet, sind wir bei Joao César Monteiro gezwungen, die Bilder aus uns selbst empor zu bringen. Monteiros „Schneewittchen“ nach dem gleichnamigen Mikrodrama von Martin Walser ist von einer brutalen Schwärze gekennzeichnet, deren einzige Erholungsmomente im kurzen Aufblitzen bildlicher Information zu liegen scheinen. Doch die Bilder bleiben ob ihrer Radikalität Zeichen, geben keinen verlässlichen Halt; ganz wie ein durch die Finger der Hand geworfener ängstlicher Blick. Vielmehr noch könnten sie sogar die Frage aufwerfen, ob die uns umgebende Dunkelheit nicht Folge eines übermäßigen Schattens sei, vor dessen Bedrohung wir die Augen verschließen. Einzig kontinuierlich verläuft die Erzählung auf der akustischen Ebene. Nur der gesprochene Text verbindet uns immer wieder mit dem Handlungsstrang, welcher nach dem Ende der bekannten Märchenversion ansetzt und in dem – ganz wie in der Grimmschen Urfassung des Themas – die Rolle der bösen Stiefmutter von der leiblichen Mutter eingenommen wird. Der Betrachter sieht hier letztlich seinen eigenen Film, da der auteur/acteur möglicherweise davor scheut, das Geschehen in Bildern konkret werden zu lassen. (13)
Auch in Francis Ford Coppolas CONVERSATION kommt dem Verhältnis Bild – Sprache eine besondere Bedeutung zu. Harry Caul, Abhörspezialist, glaubt einem Mordkomplott auf die Spur zu kommen. In thematischem Bezug auf Antonionis BLOW UP, in dem eine Bildvergrößerung bis zum fotografischen Korn die Quelle ist, versucht Caul aus einem Tonmitschnitt Details als Hinweise zu filtern.
Zu keinem Zeitpunkt weiß der Zuschauer mehr über die Handlung als der Protagonist des Films. (Abgesehen von dem für die Rezeption nicht unwesentlichen Umstand, daß Coppola an neuralgischen Punkten bekannte Filmbilder, PSYCHO besipielsweise, zitiert.) Keine erklärende Nebenszene, keine Parallelhandlung. Auf diese Weise sind wir Caul gleichgestellt und erleben wie er das Spannungsverhältnis von Sehen und Hören, denn die uns zur Verfügung stehenden Bilder gleichen einem Blick durch einen Einwegspiegel.
Dieser selektiven Wahrnehmung der Umwelt, dieser Differenz zwischen wahr und wirklich stellt Coppola eine Wiederholung gegenüber. Der Dialog der Beschatteten wird wieder und wieder abgespielt, und jedes Mal bringt er für Caul neue Aspekte zu Tage; die volle Wahrheit tragischerweise jedoch erst, als es zu spät ist. Und wieder und wieder erstehen vor unseren Augen die gesehenen Informationen.

Video

Wenn nun die Erzählung von ihrer bildhaften Repräsentation gelöst, ist zugleich aber in der filmischen Grammatik auf sich selbst zurück weißt, entsteht eine irritierende Entfremdung eines eigentlich alltäglichen Vorgangs: uns wird etwas erzählt, das zum Zeitpunkt der Mitteilung bereits andernorts geschehen ist. Das Programm VIDEO (14) versetzt uns in solche Situationen. „Gespielt“ wird in einem Teil (OPTICAL VACUUM und OPENLAND) mit Bild und Ton als den Instrumentarien filmischer Repräsentation. In einem zweiten Teil des Programms steht das Verhältnis Bild/Information/Betrachter im Mittelpunkt.
Die im Kino in der Regel vorherrschende Grundkonstellation, daß das Bild (oft als inhaltlich gedoppelte vom Ton) in einem rein wiedergebend angelegten Status Träger der für das Erfahren der Erzählung notwendigen Informationen ist, schließt aus, daß die Bedeutung des Bildinhaltes sich im Nachhinein oder gar prozessual ändern kann. Gängig ist also der Umstand, daß Bild und Information nur in Richtung Betrachter wirken. Da sich die Leinwand im Film (streng genommen allerdings auch im Kino, nur wird dies dort zumeist ausgeblendet) aber wie ein Spiegel verhält und der Betrachter eigene Informationen mitbringt, die das von ihm wahrgenommene Bild beeinflussen, ergibt sich der Umstand wechselseitiger (Ein-)Wirkung.
OPTICAL VACUUM: „Nirgendwo wird die Rede vom ‚panoptischen Zeitalter’, von einem Auge, das alles erfasst und selbst unfassbar bleibt, deutlicher, als in eben dem Medium, das Allgegenwart und Flüchtigkeit im globalen Maßstab umgesetzt hat: das Internet. Im Netz wird das bisherige Paradigma unserer bildgebenden Apparate hinfällig: Keine singuläre Zentralperspektive mehr, sondern Myriaden von Blickwinkeln, übertragen aus Webcams, die pausenlos Bilder in den digitalen Datenstrom pumpen. So ist das ‚Vakuum’ im Titel von Dariusz Kowalskis 55-minütigem filmischem Essay keine Leere, sondern ein mächtiger Generator, eine unablässige Verdoppelung der Welt ins Bild. Was so entsteht, ist eine Überwachung, die ihren alten Wortsinn wieder spürbar werden lässt: die Über-Wachheit, die Halluzinationen erzeugende Anstrengung, die ein Auge erleidet, das weder blinzelt noch schläft. Über Jahre hat Kowalski Bilder aus dem Strom gefischt, die wie eine Flaschenpost für niemanden gedacht waren und die jeder empfangen konnte. […] Auf der Tonspur hört man intime, tagebuchartige Kommentare, die nicht für das öffentliche Ohr bestimmt sind.“ (15)

Ganz im Gegensatz dazu: OPENLAND. Eine Dokufiktion, entstanden aus der Zusammenarbeit des kanadischen Videokünstlers Patrick Doan (alias Defasten) und des britischen Musikers Andrew Coleman (Animals on Wheels). Sie erschien auf dem in Manchester ansässigen Label C0C0S0L1DC1T1, das seit 1999 Musiker und Filmemacher zusammen bringt und ausschließlich entsprechende CD/DVD-Kombinationen  veröffentlicht. Auch hier scheinen die Bilder in ihrer traumhaften Intensität dem halb halluzinierenden Abschweifen, dem erinnernden, fast intimen Nachsinnen vergangener Erzählungen entsprungen. Immer wieder spielt darin das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit der Stadtbewohner eine Rolle, immer wieder brechen die Bilder die Grenzen dieser Mikrostrukturen auf: „It's not the air I'm breathing. It's my life escaping.“
In WAS BLEIBT versucht die Kamera als objektives und neutrales Auge ihre Umgebung zentralperspektivisch wirklichkeitsgetreu abzubilden. Wir bekommen beim Sehen den Verdacht, daß ihr dies nicht gelingt. Clarissa Thiemes Arbeit „ist ein filmisches Gedenken über die Grenzen der Darstellbarkeit und des Verstehens hinweg. Die gezeigten Orte stehen für sich. Sie erklären sich nicht, sie werfen die an sie gestellten Fragen zurück.“ (16) Wenn wir sie dann beantwortet haben, werden die Bilder andere sein.
VARGTIMMEN (Georg Tiller) ist die exakte und mit der originalen Tonspur versehene Rekonstruktion einer Sequenz aus Bergmans gleichnamigem Film aus dem Jahr 1968. Bild für Bild wurden die Einstellungen nachgedreht, mit dem Unterschied, daß es keine Schauspieler zu sehen gibt.
URSZENE von Christine Noll-Brinkmann konfrontiert den freudschen Blick durchs Schlüsselloch mit seiner filmischen Verlängerung. Aus unserer jeweiligen Art die Bilder zu sehen, entstehen unverhoffte intime Details.
In BÄRBEL ERZÄHLT EINEN FILM (Karl Heil) erfahren wir alles über eine Geschichte. Die Erzählung ist im Prinzip vollständig, nur die Bilder scheinen keine solchen zu sein.
DATA FRAGMENTS FROM A RAPID DECLINE (Tim Blue) letztlich ist die Repräsentation einer Repräsentation. Dioramen einer Umwelt die es so nicht mehr gibt, die selbst gleichfalls nicht mehr existieren und in ihrem „Wiederaufleben“ als filmischer Blick dennoch alles „wie echt“ abbilden. Diese Aufzeichnungen einer gefrorenen Zeit haben in ihrem Innehalten etwas Bedrohliches.

Das narzißtische Tier

Andy Warhols SCREEN TESTS sind Miniaturen, deren Dauer durch die Länge einer 16mm-Filmrolle bestimmt sind, jeweils etwa fünf Minuten. Zwischen 1964 und 1966 entstanden auf diese Weise, vorwiegend in der legendären Silver Factory, 472 Porträts. Ein fester, immer gleicher Bildausschnitt und eine einzige „Regieanweisung“, die darin bestand, daß die betreffende Person gebeten wurde sich vor die Kamera zu setzen, schafft im Moment der Betrachtung jene Art Unendlichkeit, die entsteht, wenn sich zwei plane Spiegel parallel zueinander befinden. Mit der Besonderheit, daß wir, die Betrachter, einen der beiden darstellen. Wenn wir nun dieser Unendlichkeit gegenüber sitzen und u.a. Dennis Hopper, Billy Name, Nico, Lou Reed, Edie Sedgwick oder Ingrid Superstar dabei zu sehen, wie sie von der Kamera betrachtet werden und sie ihrerseits die Kamera sehen, gleichen wir sowohl dem Kind in Lacans „Spiegelphänomen“ (17) als auch einem narzißtischen Tier.
Warhol verwendete beim Dreh der SCREEN TESTS im Ãœbrigen eine 16mm-Bolex-Kamera.



1 Ein Ereignishorizont ist in der allgemeinen Relativitätstheorie eine Grenzfläche in der Raumzeit, für die gilt, daß Ereignisse jenseits dieser Grenzfläche prinzipiell nicht sichtbar für Beobachter sind, die sich diesseits der Grenzfläche befinden. Ein Schwarzes Loch ist ein astronomisches Objekt, in dessen Nähe die Gravitation extrem stark ist. Es gibt einen Raumbereich, in dem die Raumzeit so stark verzerrt ist, daß nichts von innerhalb nach außerhalb gelangen kann. Die Grenze dieses Bereichs wird Ereignishorizont genannt. Er ist umso größer, je größer die Masse eines Schwarzen Lochs ist.

2 Die „Hermes“ wurde vom schweizerischen Feinmechanikunternehmen Paillard-Bolex hergestellt und war Anfang der 1930er als „Hermes Baby“ eine der kleinsten Schreibmaschinen der Welt und alsbald bei Literaten und Drehbuchautoren geschätzt. Bolex wiederum ist vor allem für seine Schmalfilm- und 16-Millimeterkameras bekannt.

3 Roland Barthes: Die Vorbereitung des Romans. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008, S.152

4 Cinema von griechisch κίνημα kinēma ‚Bewegung‘; kinein für ‚sich bewegen’

5 deutschsprachig im Originaltext

6 Falkenberg, Paul: Sound Montage: A Propos de Ruttmann. In: Film Culture Nr. 22/23, New York, 1961.

7 „Die Identität von Bild und Bewegung hat ihren Grund in der Identität von Materie und Licht. Das Bild ist Bewegung, wie die Materie Licht ist.“ (Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1990)

8 Holden, Stephen, Rezension zu: Blue (1993), in New York Times, 2.10.1993

9 Holden, a.a.O.

10 griech. sképsis: Betrachtung, Bedenken, zu sképtesthai: schauen, spähen (siehe  wikipedia.org)

11 Pasolini schrieb zwei „Einleitungen“ zu SALÒ, eine 1974 kurz vor Drehbeginn und eine zweite, aus der das Zitat stammt, einige Zeit später. Möglicherweise waren sie dazu gedacht parallel zum Erscheinen des Films veröffentlicht zu werden.

12 Edgar Reitz, Medium, 4/1983 in Ralph Eue: Sans Soleil. bpb.de (abgerufen am 12.2.2011)

13 „Ich bin sprach- und bilderlos vor solchem Bild“ in: Walser, Robert: Märchenspiele, Insel, Frankfurt Main 1998, S. 70

14 lat. video: ich sehe, von lat. videre: sehen

15 Dietmar Kammerer ( Sixpackfilm) ), abgerufen am 12.2.2011)

16 Katalog Forum Berlinale 2010

17 Zwischen dem sechsten und achten Monat begegnet das Kleinkind dem eigenen Spiegelbild. In seiner ersten Phase verwechselt es das Bild mit der Wirklichkeit. In der zweiten erkennt es, daß es ein Bild vor sich hat und in der dritten wird ihm bewußt, daß es sein eigenes Bild ist.