Einladung zur Reise / Disque 957 / Die Muschel und der Kleriker
Drei Filme von Germaine Dulac
"Der integrierte Film, von dem alle träumen, ist eine visuelle Sinfonie aus rhythmischen Bildern, die von den Empfindungen des Künstlers geordnet auf die Leinwand geworfen werden. Es gibt Sinfonien, es gibt reine Musik, warum sollte das Kino nicht seine eigenen Sinfonien haben?"
Germaine Dulac, Paris 1925
Eintritt € 10,00 / 8,00
I EINLADUNG ZUR REISE
Originaltitel L'INVITATION AU VOYAGE
Land Frankreich 1927
Regie/Drehbuch Germaine Dulac (frei nach Charles Baudelaire)
Kamera Paul Guichard, Lucien Bellavoine
Darsteller Emma Gynt, Raymond Dubreul, Robert Mirfeuil, Paul Lorbert u.a.
Farbe Schwarzweiß
Laufzeit 39 min
Großstadt. Nacht. Eine Frau und die Sehnsucht, aus ihrem Ehealltag auszubrechen. In einer Bar lockt das Abenteuer in Gestalt eines Marineoffiziers...
Die Initialzündung zu der sehr reduzierten Filmerzählung, zu der Dulac das Drehbuch selbst geschrieben hat, liefern ein paar Verszeilen des gleichnamigen Gedichts aus Charles Baudelaires stilbildendem Gedichtband Les fleurs du mal (Die Blumen des Bösen). Der Film ist keine Illustration des Gedichts, er sucht nach einem filmischen Äquivalent zu Baudelaires symbolischer Lyrik und entfaltet dabei seine ganz eigene Poesie in ruhigen Einstellungen, Überblendungen und Assoziationsmontagen. Dulac sucht auch hier nach Möglichkeiten, die subjektive Welt ihrer Protagonistin ins Bild zu setzen, geht mit diesem Film aber einen Schritt weiter in der Abkehr vom narrativen Kino hin zu der abstrakteren, rhythmisierten Filmsprache ihrer späteren Experimentalfilme.
II DISQUE 957
Originaltitel DISQUE 957
Land Frankreich 1928
Regie/Drehbuch Germaine Dulac
Farbe Schwarzweiß
Laufzeit 6 min
Die Visualisierung zweier Chopin-Preludes aus der Sammlung op.28 – der erste Versuch der Interpretation autonomer Musik durch die Montage von Wirklichkeitsabbildern?
"Wie wunderbar, man hört mit den Augen!" Germaine Dulac bezeichnete ihr Konzept des abstrakten Films als visuelle Musik. Mit DISQUE 957 beabsichtigte sie, "die Motive aus Chopins 'Prélude in b moll' visuell neu zu erzeugen, wozu sie, nach George Sand, durch einen grauen, regnerischen Tag bei 'La Grande Chartreuse' inspiriert wurde." (Chevalley) Eine sich drehende Schallplatte wird zu einem Funkenstrahl, der in gleichmäßigem Rhythmus innere Dramen freilegt. (1)
III DIE MUSCHEL UND DER KLERIKER
Originaltitel LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN
Land Frankreich 1927 (Uraufführung 1928)
Regie/Visuelle Komposition Germaine Dulac
Buch Antonin Artaud
Kamera Paul Guichard
Darsteller Alexandre Allin, Genica Athanasiou, Lucien Bataille
Farbe Schwarzweiß
Laufzeit 40 min
LA COQUILLE ET LE CLERGYMAN nach einem Drehbuch von Antonin Artaud gilt als der erste surrealistische Film, der noch vor Buñuels Film EIN ANDALUSISCHER HUND (1928) gedreht wurde.
Die Uraufführung des Films 1928 war in bester surrealistischer Manier ein Skandal, wobei weniger das Publikum skandalisiert war, als vielmehr die Herren der Avantgarde selbst. Die Aufführung endete mit dem Vorwurf, Dulac habe das Skript „feminisiert“, und eröffnete eine lange Zeit geführte Kontroverse um diesen Film.
Artauds Liebe zum Kino war kurz und heftig. Er wollte den Punkt aufspüren, an dem das Kino die Bilder offenbart, die im Unbewussten abgelagert sind: direkte visuelle Affekte. Seine Geschichte, die keine Geschichte ist, baut er um einen jungen Geistlichen, der sich unverkennbar im ödipalen Dreieck zwischen einer unerreichbaren Frau und einem jovial-dominanten Mann bewegt. Artaud entfesselt in seinem Text einen wahren Strudel und Kreislauf von Bildern, Wunschvorstellungen, Verkehrungen und destruktiven Phantasien. Dulac hält sich bei ihrer Verfilmung detailliert an die Vorlage und setzt dabei elaborierte Filmtricks ein. In präzis komponierten Bildern erforscht sie den ambivalenten Charakter des Textes von Artaud. (2)
Germaine Dulac, 1882 geboren, wandte sich zunächst dem Journalismus zu. Sie war Redakteurin bei La Française, wo sie unter anderem Theater- und Filmkritiken schrieb.
Dulac debütierte als Regisseurin mit dem Film LES SOEURS ENNEMIES aus dem Jahr 1915. Sie wandte sich neuartigen künstlerischen Ausdrucksmitteln zu; mit ihren Filmen La FÊTE ESPAGNOLE (1920) und LA SOURIANTE MADAME BEUDET (1922) war sie neben Louis Delluc die wichtigste Vertreterin des französischen Filmimpressionismus Anfang der 20er Jahre. Beim Film L'INVITATION AU VOYAGE (1927) wirkte sie nicht nur als Regisseurin, sondern auch als Drehbuchautorin und Filmproduzentin.
1 Freunde der Deutschen Kinemathek / online
2 Quelle: absolut Medien
Live-Begleitung (außer DISQUE 957) Anja Kleinmiche/LutzEitel (Piano, Elektronik/E-Gitarre, Field-Recordings)